Ini5: Kein Fortschritt ohne Konflikt – dieser Koalitionsvertrag ist keine sozialdemokratische Antwort auf die Krise

Mit dem Ergebnis der Bundestagswahl vom 23. Februar 2025 ist politisch klar:
Eine Regierungsbildung ohne Beteiligung von Union und SPD ist rechnerisch nicht
möglich. Die Vorstellung, die SPD könne sich dieser Verantwortung einfach
entziehen, wäre politisch naiv – und in der gegenwärtigen Situation
gesellschaftlich fahrlässig. Wir können in diesem Zusammenhang auch die Bedenken
bezüglich einer Ablehnung des vorliegenden Koalitionsvertrags verstehen und
nachvollziehen. Viele gesellschaftliche und soziale Bereiche sowie nahezu alle
Kommunen sind auf rasche Entscheidungen und das zügige Umsetzen von Maßnahmen
sowie die Verabschiedung eines Bundeshaushaltes angewiesen. Auch die Sorge vor
einer weiter anwachsenden Stärke von rechtspopulistischen und rechtsnationalen
Kräften aufgrund von anhaltender politischer Handlungs- und
Gestaltungsunfähigkeit nehmen wir wahr.

Doch genauso fahrlässig wäre es, diesen Koalitionsvertrag zur Geschäftsgrundlage
sozialdemokratischer Politik zu erklären. Denn was Union und SPD hier gemeinsam
vorgelegt haben, ist kein Zukunftsentwurf für ein gerechteres, demokratischeres,
solidarischeres Morgen. Es ist ein Vertrag der Rückschritte. Ein Signal der
Anpassung. Ein Angriff auf jede progressive Politik. Ein Anspruch, den wir als
Jusos seit Jahren verteidigen – oft genug auch gegen unsere eigene Partei.

Was dieser Koalitionsvertrag sagt, ist klar: Migration wird zur Bedrohung
erklärt, Armut wird verwaltet statt bekämpft, Arbeit wird flexibilisiert statt
fair gemacht, soziale Absicherung wird an Bedingungen geknüpft, als wären wir im
Jahr 2003. Die strukturelle Ungleichheit, die diesen Staat durchzieht, wird
nicht einmal mehr rhetorisch problematisiert – und die Schuldenbremse wird zum
unantastbaren Dogma erhoben.

Was dieser Koalitionsvertrag nicht sagt, ist genauso bezeichnend: Es fehlt an
einer Perspektive für Menschen in prekären Lebenslagen, für Geflüchtete, für
junge Menschen, für queere Communities, für Familien ohne Eigentum, für alle,
die in diesem Land mehr geben als sie je bekommen haben.

Und genau deshalb sagen wir Jusos Sachsen klar und deutlich: Wir lehnen diesen
Koalitionsvertrag ab.

Aus Verantwortung für Demokratie – nicht für Symbolpolitik

Wir müssen den Finger in die Wunde legen und klarstellen: Verantwortung für
Demokratie bedeutet nicht einfach, politische Verantwortung ohne klare Linien
und Überzeugungen zu übernehmen. Als Jusos sind wir uns einig: Es darf der SPD
nicht nur darum gehen, als Teil

einer neuzubildenden Regierung zu agieren, sondern vorallem auch darum, aktiv
eine politische Agenda zu gestalten, die die sozialen Werte einer solidarischen
Gesellschaft widerspiegelt. Es geht nicht nur darum, mitzuregieren, sondern auch
darum, die Verantwortung für die sozialdemokratische Vision in der Gesellschaft
aufrechtzuerhalten. Doch dieser Koalitionsvertrag, wie er hier vorliegt, ist
eine bloße Verwaltung der bestehenden Verhältnisse und keine Gestaltung der
Zukunft. Wir können und dürfen uns nicht damit abfinden, dass grundlegende
sozialdemokratische Prinzipien wie soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit und
Solidarität im Namen einer fragwürdigen Konsenspolitik aufgeweicht werden.

Denn was dieser Vertrag letztlich zeigt, ist der Versuch, Konflikte zu
vermeiden, statt sie anzunehmen. Wer meint, durch eine Politik des kleinsten
gemeinsamen Nenners die Gesellschaft zu versöhnen, unterschätzt die
tatsächlichen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Krisen, die das Land
durchziehen. Es ist kein Fortschritt, die sozialen Probleme zu ignorieren, nur
weil sie unbequem sind. Es ist kein Fortschritt, sich dem rechten Diskurs zu
beugen, nur um politischen Frieden zu simulieren. Nein, der politische Erfolg
muss in der radikalen Auseinandersetzung mit den bestehenden Ungleichheiten
liegen, nicht in der Abwägung zwischen schlechten und weniger schlechten
Kompromissen.

Eine SPD, die aus Angst vor einem angeblichen „Rechtsrutsch“ rechte Narrative
übernimmt, verfehlt ihr Ziel. Der Koalitionsvertrag nimmt Begriffe wie
„irreguläre Migration“, „Anreize zum Sozialmissbrauch“ und
„Integrationsverweigerung“ auf, als hätte ihn ein Unions-Innenminister mit einem
AfD-Schatten im Rücken formuliert.

Damit wird nicht der Rechtsruck gestoppt – er wird diskursiv validiert. Die
Versuche, mit autoritären Maßnahmen wie Abschiebungen nach Syrien und
Afghanistan, der Aussetzung des Familiennachzugs, Internierungshaft und
Leistungskürzungen verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, sind nicht nur
rechtsstaatlich fragwürdig – sie sind politisch katastrophal. Sie bestätigen die
Deutung der Rechten: dass Migration das zentrale Problem unserer Gesellschaft
sei.

Wer Migration als Bedrohung begreift, wer das Bild von „kriminellen Migranten“
pflegt, wer mit Abschiebungen und dem Aushungern von Asylrechtsverfahren Politik
machen will, gibt grundlegende Prinzipien der sozialen Demokratie auf. Eine
solche sozialdemokratische Partei, verabschiedet sich aus der Tradition des
Internationalismus und der Solidarität – und macht sich zur Beflüglerin des
Rechtsrucks.

Die sog. Bezahlkarte ist der in Form gegossene Ausdruck von Stigmatisierung und
Diskriminierung von Geflüchteten in Deutschland. Eine Forderung nach
flächendeckendem Einsatz ihrer und der Verhinderung von ihrer Unterbindung
sollte für eine sozialdemokratische Partei erschreckend sein, ist es aber
scheinbar nicht. Die Bezahlkarte hemmt die Integration und macht das Leben von
Geflüchteten komplizierter. Sie spricht Geflüchteten ab, selbst finanzielle
Entscheidungen treffen zu können, und entmündigt sie.

Wer sich als Partei der Gleichberechtigung sieht und die schwächsten unserer
Gesellschaft fördern möchte, darf dieses System nicht weiter unterstützen und
fordern, es auszubauen. Es muss klar sein, dass man sich für eine Abschaffung
der sog. Bezahlkarte ausspricht.

Sozialpolitik ohne Würde – das Comeback des Forderns ohne Fördern

Die Rückkehr zum Vermittlungsvorrang, die faktische Wiedereinführung von
Vollsanktioierung, die Abschaffung von Schonvermögen, das Framing von
Sozialleistungen als Einwanderungsanreiz – all das sind keine
Nebensächlichkeiten. Es sind Rückfälle in eine Zeit, in der der Sozialstaat vor
allem Kontrollstaat war. Wer Sozialleistungen als Mittel der sozialen Kontrolle
begreift und eine Gesellschaft durch Misstrauen und Entwürdigung strukturiert,
gefährdet den sozialen Zusammenhalt.

Wir wollten das Kapitel Hartz IV beenden – nicht mit neuem Cover, sondern mit
neuem Inhalt. Doch dieser Koalitionsvertrag erzählt keine neue Geschichte. Er
reproduziert alte Formeln: Arbeit um jeden Preis, Leistung vor Leben, Sanktion
statt Unterstützung.

Menschen, die auf soziale Sicherheit angewiesen sind, werden erneut mit
Misstrauen behandelt, statt als Partner*innen in einem Sozialstaat auf
Augenhöhe. Wir fordern einen Sozialstaat, der aktiv Menschen unterstützt und
nicht in eine Spirale aus Kontrolle und Stigmatisierung schickt. Das Ziel muss
es sein, Menschen zu fördern, ihre Lebensbedingungen zu verbessern und ihnen die
Möglichkeit zu geben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen – und das nicht nur
auf dem Papier, sondern auch durch konkrete politische Maßnahmen. Kurz: Was wir
brauchen, ist ein Sozialstaat, der qualifiziert, schützt und stärkt – nicht
einer, der schikaniert.

Kein Mieter*innenschutz, keine Vermögensbesteuerung – aber ein
„Deutschlandfonds“

Während Wohnraum unbezahlbar wird und der Mangel an öffentlicher Daseinsvorsorge
wächst, bleibt die große sozialpolitische Gerechtigkeitsfrage unbeantwortet: Wer
zahlt eigentlich für dieses Land? Die Antwort dieses Koalitionsvertrags ist
erschütternd klar: nicht die Reichsten. Der Koalitionsvertrag versäumt es,
reiche Erben und Konzerne zur Verantwortung zu ziehen, indem er eine
Vermögenssteuer und echte Maßnahmen gegen die Steuerflucht der Reichen
ausblendet.

Stattdessen: eine Kommission, ein Fonds, ein Prüfauftrag. Symbolpolitik statt
Substanz. Wer die soziale Frage nicht stellt, darf sich nicht wundern, wenn sie
von rechts beantwortet wird. Wer eine gerechtere Gesellschaft anstrebt, muss
sich der Vermögensverteilung stellen und den Reichen mehr zur Verantwortung
ziehen. Das können wir nicht einfach hinnehmen.

Klimapolitik mit angezogener Handbremse

Auch in der Klimapolitik verpasst die Koalition ihre Chance. Statt
entschlossener Investitionen in öffentliche Infrastruktur, soziale
Klimagerechtigkeit und eine Abkehr von fossilen Abhängigkeiten erleben wir
Rückschritte: CCS-Technologien, Gasförderung, verlängerte Laufzeiten,
technologieoffenes Lavieren – aber keine klare Linie für eine ökologische
Transformation mit sozialen Garantien. Klimaschutz wird zur Standortpolitik
degradiert – und soziale Gerechtigkeit zum Nachsatz.

Wir sind nicht alternativlos

Ja, die Mehrheitsverhältnisse nach dem 23. Februar sind schwierig. Aber
„schwierig“ ist kein Freifahrtsschein für inhaltliche Selbstaufgabe. Es ist
Aufgabe der SPD, nicht nur mitzuregieren, sondern zu gestalten. Und wenn das mit
der Union nicht geht, dann muss man den Konflikt austragen – nicht die roten
Linien abräumen.

Wir akzeptieren nicht die Erzählung, dass es „nun mal nicht anders geht“. Wenn
der Preis für Regierungsbildung das Aufgeben unserer Grundsätze ist, dann ist es
unsere Aufgabe als Jusos, genau diesen Preis nicht zu bezahlen. Politische
Verantwortung heißt auch: Nein sagen können.

Wir werden weiterkämpfen. Wir sind nicht die Erben der Politik des kleinsten
gemeinsamen Nenners. Wir sind die Generation, die die Konflikte nicht scheut,
sondern sie aktiv und

konstruktiv austrägt. Unser Ziel ist klar: eine sozialere, gerechtere,
solidarische und demokratische Gesellschaft.

Unsere Position

Wir als Jusos Sachsen sagen deshalb:
● Wir lehnen den Koalitionsvertrag in seiner vorliegenden Form ab.
● Wir fordern Nachverhandlungen in den Bereichen Asyl & Migration, Soziales und
Arbeit.
● Wir rufen alle Mitglieder der SPD dazu auf, beim Mitgliederentscheid mit Nein
zu stimmen.
● Und wir sagen deutlich: Egal wie die Abstimmung ausgeht – auf uns ist zu
zählen.

Wir sind nicht der Jugendflügel einer Großen Koalition. Wir sind der
demokratisch-sozialistische Motor einer Partei, die sich selbst nicht aufgeben
darf.

Wenn Morgen wirklich uns gehören soll, dann müssen wir heute anfangen, für
dieses Morgen zu kämpfen!